Heute wurde uns als Veganer von einem Freund, den wir eingeladen haben und der mit der veganen Lebensweise und Ernährung noch nicht so vertraut ist, die Frage gestellt, ob Veganismus nicht dekadent sei.
Wieder einmal ein neuer Punkt, über den ich so vermutlich nicht nachgedacht hätte. Also habe ich den Begriff Dekadenz noch einmal genauer betrachtet. Laut Wikipedia hat das Wort Dekadenz einen geschichtsphilosophischen Ursprung, bei dem Veränderungen in Gesellschaften und Kulturen als Verfall, Niedergang bzw. Verkommenheit gedeutet und kritisiert wurden. Der Begriff Dekadenz setzt also voraus, es gäbe objektiv bessere und wünschenswertere Zustände. In der späteren Literatur bezog sich der Begriff auf ein ablehnendes Verhältnis zur "bürgerlichen Welt" und zeichnete sich durch Exotismus, Rausch und einer gesteigerten Sensitivität aus. Gegenwärtig wird der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch negativ verwendet und wird gleichgesetzt mit Schwächlichkeit, Verkommenheit oder Verschwendung, sowie im Sinne eines sozial schädlichen (vorwiegend moral-ethischen) Abweichens einer gesund-natürlichen Lebensform.
Unser Freund, ein Fachmann im Bereich Werbung, warf diesen Aspekt ein, als ich ihm erzählte, dass wir sogar bei unseren Taschentüchern angefangen haben darauf zu achten, welche Marke wir kaufen, um z.B. Experimente an Tieren zu umgehen. Natürlich ist unser Freund ein lieber, offener Mensch, der mit seiner Frage nicht das vegane Thema oder das Gespräch herunterziehen wollte. Dennoch kam sie die Frage und ich fand es gut, sie hier noch einmal einer genaueren Betrachtung zu würdigen.
Wenn Jemandem das Thema Veganismus neu ist, kann ich verstehen, wenn er es als übersensibel oder in gewissen Maße übertrieben findet, wenn man die Produkte, die man kauft und konsumiert solch einer "harten" oder sagen wir intensiven Betrachtungsweise unterzieht. Veganer betrachten die Gesellschaft und die Esskultur mit Sicherheit aus einer kritischeren Perspektive als Otto-Normal-Verbraucher. Und sie gehen mit Sicherheit auch davon aus, dass es gesündere oder aus moral-ethischen, ja auch aus umweltkritischen Aspekten heraus bessere Alternativen geben kann zu dem Konsum tierischer Produkte. Das macht sie zwar zu kritischen Hinterfragern, aber weniger zu arroganten Missionaren. Zumal ich es auch immer schwierig finde, egal welche Art von Menschen, alle in gewisse Schubladen zu pressen. Es gibt natürlich begeisterte Veganer, die zu 100% hinter dieser Sache stehen und diese gerne in Diskussionen bis aufs Blut verteidigen. Doch es gibt auch Veganer, die offen bleiben und auch in einem Dialog mit Anderen verweilen.
Kein Gespräch ist ein gutes Gespräch, wenn es keinen Ausgleich bei der Argumentation gibt und keinen Spielraum für gegenseitige Akzeptanz, einem gesunden Maß an Respekt, Interesse und Verständnis füreinander. Wenn Dekandenz bedeutet die "bürgerliche Welt" abzulehnen, dann sind Veganer dies absolut nicht. Sie lehnen einen bestimmten Teilbereich beim Konsum und in ihrem Ernährungsverhalten ab. Sie setzen sich natürlich ein für eine gesunde Lebensweise und gegen das Leiden von Tieren. Und ja, gerade dies macht sie in der breiten Masse zu "Exoten", da sie NOCH einer Minderheit der Bevölkerung angehören. Und ja, sie haben eine gesteigerte Sensivität entwickelt, weil sie achtsamer durch die Welt gehen, sich viel mehr Wissen zu ihren Produkten aneignen und natürlich das Quälen und Töten von Tieren ablehnen.
Bin ich verschwenderischer oder "dekadenter", weil meine Taschentücher vegan sind und nicht von einer Firma, die Tierversuche fördert? Ich denke nein. Ich werfe mein Geld nicht sinnfrei in die Marktwirtschaft hinaus, nur weil ich mich auf bestimmte Produkte oder Marken konzentriere. Im Grunde vereinfacht es mein Konsumverhalten enorm, da ich nicht aus einer Fülle an Marken wählen muss. Meine Taschentücher sind recyclebar, aber natürlich werden für sie auch Bäume abgeholzt. Ich schaffe es aufgrund mangelnder Transparenz garnicht immer 100% vegan zu leben. Doch es anzustreben nenne ich alles andere als dekadent. Vielleicht ist blinder Konsum da verschwenderischer als veganer?
Vorallem gefällt mir der heutige negative Sprachgebrauch von Dekadenz nicht. Ist man also Exotisch, weil man nicht der breiten Masse folgt? Vermutlich ja. Und wieso nicht? Wirft man sein Geld verschwenderisch heraus oder stellt es zur Schau? Nein, denn vegan leben muss nicht zwingend teurer sein, aber es ist natürlich hochwertiger, da viele Lebensmittel nicht künstlichen Zusatzstoffen unterworfen sind oder aus fairem Handel stammen. Bin ich sozialkritisch? Nun ja, schon. Denn ich hinterfrage zumindest Teilbereiche des gesellschaftlich, ja besonders menschlichen Handelns. Halte ich mich als Veganer für einen besseren Menschen? Nein, aber ich kann sagen ich gebe mein Bestes, um gut zu handeln und im Spiegel zufrieden mit mir selber zu bleiben.
Wenn Dekadenz damit verbunden wird, anders als andere sein zu wollen, dann wieso auch nicht? Anders sein oder kritischer sein, muss nicht gleichbedeutend negativ ausgelegt werden. Ob die Gesellschaft einem Verfall unterworfen ist, weil sie tierische Produkte konsumiert? Das kann ich nicht beantworten. Ich weiß, dass wenn die Menschen weiter so konsumieren würden, wie sie es tun, brauchen wir zweimal die Erde, um all diese Ressourcen zu decken. Veganer sind vielleicht eine Minderheit, aber es ist auch kein Hype oder ein Lifestyle. Es ist nicht "schick" oder besonders "trendy" vegan zu sein. Was soll das überhaupt bedeuten? Im Grunde haben viele etablierte gesellschaftliche Veränderungen eines Tages wohl als Trend begonnen. Jeder der früher ein Automobil fuhr, wurde anfangs wohl noch als Spinner abgetan. Heute ist eine Welt voll von Autos.
Vielleicht wird man heute noch belächelt, wenn man sich einer alternativen Ernährungsweise zuwendet als Andere. Doch eines Tages gehören Sojaprodukte vielleicht zu einer gängigen Zukunftsmahlzeit. Niemand kann das sagen. Über den Gedanken dekadent zu sein, habe ich mir bisher noch keine großen Gedanken gemacht. Zumal ich zufrieden mit mir und meinem Kaufverhalten bin. Ich kannte Vorwürfe wie Extremismus oder Fanatismus, welches mit Veganismus in eine Tüte geworfen wurde. Und manchmal ist es ermüdend sich solchen Argumentationsansätzen zu stellen. Aber ich versuche meistens Ruhe zu bewahren und freundlich aufzuklären. Neugier und Offenheit finde ich auch bei unserem Freund sympathischer als stille Ablehnung. Immerhin werden Fragen ja noch gestellt und man gibt damit jemandem die Chance zu antworten.
Ist Veganismus also dekadent? Meine für mich gefundene Antwort wäre: Nein. Ich kann durchaus Teilansätze und Vergleiche nachvollziehen, wenn ich die genaue Bedeutung des Wortes recherchiere, aber ich denke Veganismus bezieht sich nur auf einen Teilaspekt im Leben und stellt keine Ablehnung eines gesellschaftlichen Systems dar. Und ich denke, dass Veganer ganz sicher nicht Abweichen von einer gesund-natürlichen Lebensform.
Doch mich interessiert natürlich auch mal Eure Meinung als Veganer dazu. Wie hättet Ihr Eurem Freund diese Frage beantwortet? Und wie wohl hättet ihr Euch mit der Antwort gefühlt? Ganz gleich wie sie ausgefallen wäre. Ich habe den Tag jedenfalls dennoch positiv gesehen, denn ich finde es spannend und auch gesund immer im Dialog zu bleiben, gerade um als Veganer garnicht mehr so unnahbar oder exotisch zu wirken. Außerdem hat unser Freund sich über die Einladung gefreut und das vegane Essen hat ihm sehr gut geschmeckt. Und wer weiß, vielleicht denkt er in Zukunft auch mal allgemein über Konsum nach oder auch über Veganer als Zielgruppe, da er ja nun einmal aus der Werbungsbranche kommt ;) Ich musste lachen, denn ich denke gerade Veganer beäugen Werbung kritischer oder kaufen Produkte nicht blind, weil das Label gutes verspricht.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen